Prolog
Wenn ich an damals denke, frage ich mich, wie alles nur so weit kommen konnte? Was hat mich dazu veranlasst, dass ich Jan so nah an mich heranließ? Es fing doch so schön an...
Als Ben und ich uns damals kennenlernten, hatte er einen seiner berühmten Auftritte als DJ bei den Dorffestspielen und eine Schar Mädels stand um sein Pult.
Sie kreischten um die Wette. Die einen wollten ihren Lieblingstitel hören, die anderen mit ihm tanzen und eine hatte in ihrer Arschtasche ein Höschen raushängen, bis heute weiß ich nicht, was sie mit diesem vorhatte.
Unbeeindruckt drückte ich mich durch die Menge und stand neben ihm. Die Mädels starrten mich an, als hätte ich ihnen den neuesten Lippenstift direkt vor ihrer Nase weggeschnappt. Ich wollte doch nur einen Musikwunsch äußern und auf einmal war ich auf der persönlichen Abschussliste von rund fünfzehn Frauen. Das war schon leicht gruselig.
„Welchen Wunsch kann ich denn dieser Schönheit erfüllen?“, fragte er mich.
Ich ließ mich auf sein kleines Spielchen ein und antwortete herausfordernd: „Nur du kannst mir helfen und den Wunsch wahr werden lassen.“
„Das klingt spannend. Also schöne Lady, was kann ich tun?“
Ich gab meinen Musikwunsch an und lächelte verlockend. Seine draufgängerische Art hatte etwas an sich, das mich zu ihm zog. Meine letzte Beziehung war zwei Jahre her. Ich hatte lange gebraucht, um über meinen Ex hinwegzukommen, da kam mir seine Flirterei gelegen.
„Wollen wir uns nach dem Lied auf einen Drink an der Bar treffen?“ Wieder erntete ich giftige Blicke seiner Fans.
„Ich sehe dich dort“, sagte ich keck und sah triumphierend auf die aufgetakelten Mädels hinab.
Als ich mich waghalsig durch die Meute schlängelte, drehte ich mich nochmal zu Ben, der mich verträumt anhimmelte und meinen Song abspielte. Ich schnappte mir Sarah und fegte mit ihr über das Parkett. Das Lied endete und ich suchte die Bar auf. Da stand er schon. Seine Jeans war eng an ihn geschmiegt, sein Hintern war so knackig, das ich mich danach sehnte hineinzubeißen. Sein Haar lag verwegen, die blauen Augen strahlten so sexy und das Lächeln, so verschmitzt, es verhieß keine Langeweile.
„Hey du“, sagte ich ein bisschen anzüglich.
„Ich hab schonmal bestellt.“
„Du weißt doch gar nicht was ich gerne trinke?“
Er gab sich selbstbewusst, beugte sich zu mir und flüsterte in mein Ohr: „Ich bin mir sicher, dass ich deinen Geschmack getroffen habe.“
Mich machte seine selbstgefällige Art an. Der Barkeeper stellte ihm ein Bier und mir einen Cocktail auf den Tresen.
„Lass es dir schmecken wunderschöne Frau.“ Er war charmant und wusste genau, was er sagen musste, um mich vollständig um den Finger zu wickeln.
Ich nahm einen Schluck von dem Sparkling Blue und war durchaus überrascht, wie genau er meinen Geschmack traf.
„Mmhmm. Ich bin erstaunt, wie gut du mich lesen kannst“, scherzte ich.
„Das ist mein Gabe. Vor mir hält niemand seine Leidenschaft geheim.“ Er blickte mir dabei tief in die Augen. Mir huschte ein Lächeln übers Gesicht und er sah seine Chance, nahm meine Hand und zog mich auf die Tanzfläche. Ben war und ist ein begnadeter Tänzer. Seine Hände strichen federleicht über meinen Körper und hinterließen prickelnde Stromschläge. Seine Lippen kamen verheißungsvoll nah an meine und ich hatte das Bedürfnis, mich ihm vollends hinzugeben.
Die Musik hörte auf zu spielen und wir standen noch immer eng aneinander, vergaßen alles um uns herum und dann drückte er mir plötzlich einen weichen Kuss auf. Mein Bauch kribbelte wie verrückt und als er wieder an sein DJ-Pult ging, war ich mir sicher, dass diese Geschichte noch nicht vorbei war.
Das war sie dann auch nicht. Ich fuhr jedes zweite Wochenende in die Heimat und verbrachte enorm viel Zeit mit ihm. Jede Sekunde ohne seine Nähe war eine Bestrafung. Er brachte mich rund um die Uhr zum Lachen und mein Körper vermisste seine samtweichen Fingerspitzen, die mir jedes Mal, wenn er mich an meinen hochsensiblen Stellen berührte, eine Gänsehaut verpasste. Ich hatte es geliebt, wie er mich liebte, und ich war fasziniert von dem Spaß, den wir beide gemeinsam hatten. Bei seinen Auftritten spielte er immer den heißbegehrten Single und wenn er dann 'Sie liebt den DJ' auflegte, sendete er mir heimlich heiße Blicke, die eine leidenschaftliche Nacht versprachen.
Nach fünf oder sechs Monaten kam der erste Tiefpunkt. Wegen meines Arbeitsplatzwechsels hatte ich einige Wochenendschichten zu absolvieren und konnte nicht mehr so regelmäßig nach Hause fahren. Plötzlich ging unser Rhythmus nicht mehr auf. Ben war ständig bei Veranstaltungen gebucht und wenn wir uns sahen, dann meistens in der Stammkneipe Jack´s Taverne.
Dort lernte ich Jenny besser kennen und wir wurden enge Freunde. Eines Abends lud sie mich zu ihrem Geburtstag ein und stellte mir einen guten Freund vor. Das war Jan. Er betrat den Raum und meine Beine fingen an, weich zu werden. In meinem Bauch flogen Schmetterlinge und ich konnte nicht aufhören, ihn anzusehen. Jan begrüßte mich mit einer herzlichen Umarmung und strich mir liebevoll über den Rücken. Seine ersten Worte an mich werde ich nie vergessen.
„Du bist also Bens außerordentlich bezaubernde Freundin. Elena, richtig?“
Diese Stimme! Seine dunkle Stimmfarbe, mit dem geheimnisvollen Unterton und der Art, wie er die Worte lüstern betonte. Ich war hin und weg. An dem Abend hatte ich vehement versucht, ihm aus dem Weg zu gehen, aber wie vom Schicksal gelenkt, zog es uns immer in dieselben Ecken. Ich glaubte nicht an Liebe auf den ersten Blick, das tu ich bis heute nicht, aber das Gefühl, welches er in mir auslöste, war magisch. Heimlich verabschiedete ich mich von Jenny und als ich die Wohnungstür hinter mir schließen wollte, bemerkte ich einen Widerstand und ließ los. Da kam Jan aus der Tür, angezogen zum Gehen.
„Ich möchte auf Nummer sichergehen und dich lieber heim schaffen. Nicht das noch ein Unglück passiert.“ Er hebt mein Kinn an und flüstert schmunzelnd: „Das könnte ich mir nie verzeihen.“
Das war der Moment, wo die Beziehung zwischen Ben und mir, eine unvermeidbare Wendung nahm.
Und jetzt, einige Jahre später, sitze ich hier und frage mich, warum all das immer wieder passiert. Was stimmt mit mir nicht?
Mein Haar ist zerzaust, meine Sachen unordentlich und meine Lippen sind rau. Wieso lerne ich bloß nie aus meinen Fehlern?
…
Kapitel 1
Alles anders und doch so gleich
Blitzschnell fegen meine Fingerspitzen über die schwarzen Felder der Tastatur.
Auf dem Bildschirm ist Google geöffnet und ich kann nicht glauben, was ich in die Suchmaschine eingebe.
Jan Schöneberger, Straßburg
Das letzte Mal, das ich von ihm hörte, ist Jahre her. Als ich mit Tom zusammenkam, war mir wichtig, dass ich mich selbst nicht wieder dazu zwang, Jan zu vergessen oder ihn zu ignorieren. All diese Maßnahmen hatten in der Vergangenheit meine Sehnsucht nach ihm nur verstärkt und jedes Lebenszeichen rief eine Explosion der Magengegend hervor. Tom und ich waren von Anfang an glücklich. Er ist bis heute mein absoluter Traummann, um den mich alle Freundinnen reihenweise beneiden.
In unserem ersten Beziehungsjahr gab es unregelmäßige Telefonate zwischen Jan und mir, nichts Spektakuläres, hin und wieder ein kleiner Plausch und kurze Abstecher in alte Zeiten. Nur reden, wie zu unseren Anfangszeiten, denn trotz der intensiven Abenteuer, war er mein Freund und das wollte ich unter keinen Umständen verlieren. Kurz vor der geplanten Hochzeit mit Tom rief er ein weiteres Mal an und fragte, ob wir uns treffen wollen. Am Anfang hatte ich zugesagt. Doch nachdem er andeutete, dass ER mein persönliches Geschenk auf dem Weg in den Hafen der Ehe sein könnte, wurde mir anders und ich vertraute meiner Standhaftigkeit nicht mehr.
Ich sagte das Treffen ab und wir hatten keinen Kontakt mehr. Ich weiß nicht, was mich immer wieder an ihn denken lässt, wieso ich stets seine Aufmerksamkeit suche und er ein stiller Begleiter meines Lebens ist. Aber sobald im Alltag etwas aus dem Ruder läuft, ist er eine Art Anker für mich.
„Elena?“ Erschrocken schließe ich Google.
„Ja Herr Kolber.“
„Ich benötige noch die Expertisen zu den neuen Strategien für die Niederlassung in Schweden. Wir haben das Meeting vorgezogen und Sie müssen unbedingt dabei sein. Unser Geschäftskunde hat ein Büro hier in Deutschland und bringt seine vertretende Kanzlei mit. Bereiten Sie acht Kopien vor und bringen Sie alles morgen Nachmittag sechzehn Uhr mit in den Konferenzraum.“
Herr Kolber wirft mir ein dankbares Lächeln zu.
„Sie können sich auf mich verlassen“, verspreche ich.
Sobald er meine Bürotür schließt, greife ich zum Hörer des Diensttelefons und wähle Toms Nummer.
„Hallo Schatz.“ Seine freudige Stimme erhellt mir den Tag.
„Hey, störe ich gerade?“
„Nein, alles gut. Was gibt es denn?“
„Ich muss morgen auf eine Konferenz und die startet erst am späten Nachmittag. Ich kann leider nicht mit zu dem Abendessen bei deinen Eltern. Sollen wir das verschieben oder magst du ohne mich gehen?“
„Mein Vater will noch ein paar Dinge mit mir abklären, ich würde gern fahren.“
„Die guten Neuigkeiten erzählen wir aber gemeinsam ja?“
Tom lacht: „Meine Lippen sind versiegelt Chefin.“
„So lobe ich mir das", necke ich ihn. „In einer Stunde mache ich Feierabend. Hast du Lust, dass wir noch mit Sarah und Michael essen gehen?“
„Sehr gerne. Mach etwas aus, ich komme dich dann abholen. Bis gleich Schatz.“
Pünktlich wie bestellt steht Tom vor der Firma. Er schaut mich nach all den Jahren unserer Beziehung noch immer voller Liebe und Glück an. Ich weiß absolut zu schätzen, was ich an ihm habe, desto mehr schäme ich mich, dass Jan fortwährend im Hinterstübchen ein Zimmer für sich beansprucht.
„Du hast mir gefehlt“, hauche ich leise durch meine dünn geöffneten Lippen.
Toms Augenbraue schnellt nach oben und ein lüsternes Schmunzeln markiert sein Gesicht. Ich liebe seine angespannte Kieferpartie, die enorme Männlichkeit und Kraft ausdrückt.
Ich halte sein Gesicht in meinen warmen Händen und sehe ihn eindringlich an. Tom umgibt, seitdem ich ihn kenne, eine Aura, die ihn zum Sympathieträger kürt. Es war ein Leichtes Tom meinen Eltern vorzustellen. Meine Cousine Katja nannte ihn sogar Lieblingsschwager, nur um mit ihm näher verbunden zu sein. Aber am schönsten waren die Worte meines Opas „Diesen Mann musst du festhalten Elena, er ist einer von den Guten, Das gibt es nicht so oft.“
Das ist mein Tom, jedermanns Liebling.
„Ich liebe Dich“, sage ich mit tiefer Hingabe.
„Ich liebe dich mehr“, beteuert er und küsst mich sanft auf meine trockenen Lippen.
Ich bin mir sicher, dass er damit goldrichtig liegt. Er liebt mich mehr, aber nicht, weil ich ihn nicht genug liebe, sondern, weil er so ein großes Herz hat und all der Platz nur für mich reserviert ist. Zumindest vorerst.
Verliebt verflechte ich meine Finger mit seinen und schmiege mich fest an seinen Arm. Wir laufen die Königsallee entlang und suchen einen guten Platz auf der Außenterrasse des Capellis. Die Sonne steht strahlend schön über dem Gebäude von Kolbers und taucht unseren gemütlichen Sitzplatz in ein verwischtes Sonnenlicht. Wir rücken unsere Stühle nah aneinander und genießen die Nähe des anderen, bis wir Sarah von Weitem mit Michael diskutieren hören.
„Nein Michael, die Farbe muss definitiv ein eierschalengelb sein, nur so passt es zum Thema.“ Sarah beharrt hartnäckig auf ihre Meinung.
„Ich hätte kein Problem mit deiner Farbwahl, wenn ich bei eierschalengelb nicht ständig an die braunen Hühnereier denken müsste“, kontert Michael genervt. Lautstark kommen die zwei an unseren Tisch und begrüßen uns erst, nachdem Michael die Diskussion mit einem Augenrollen beendet. Ich stehe auf und umarme Sarah freudig.
„Kannst du Michael nicht einmal gewinnen lassen? Nur für seinen Seelenfrieden wenigstens?“, necke ich sie.
Standhaft wie immer gibt sie nur ein scharfes „Nein“ von sich und sieht kampfeslustig zu Michael. Er schüttelt nur unmissverständlich den Kopf und formt das Wort 'Frauen' in Toms Richtung.
Lachend setzen wir uns wieder und werfen einen Blick in die Karte.
„Um was ging es denn bei euch?“, frage ich von Neugier erfüllt.
„Ich möchte ein neutrales Kinderzimmer im Haus und mein Mann kennt wohl nur die Grundfarben aus der Schulzeit. Er kann mit eierschalengelb oder jadegrün nichts anfangen.“
Michael gibt sich entschlossen, den Disput erneut anzufachen, aber Tom reißt das Ruder an sich.
„Wieso diskutiert ihr über ein Zimmer, dessen Bewohner noch nicht mal im Anmarsch ist?“
Das ist eine ausgezeichnete Frage.
Sarah und Michael stottern ausweichend. Voller Vorfreude quieke ich laut auf: „Oh mein Gott! Du bist schwanger?“ Die benachbarten Gäste starren uns an.
Sarah errötet und Michael ergreift das Wort: „Oh Mann, so war das jetzt eigentlich nicht geplant.“ Er streicht sich über den Hinterkopf und feixt.
„Ja, wir bekommen ein Baby.“
Begeistert springe ich von meinem Stuhl und reiße Sarah an mich.
Überglücklich schreie ich in ihr Ohr: „Herzlichen Glückwunsch. Ich freue mich so sehr für euch!“
Wir stoßen auf diese wunderbaren Neuigkeiten an. Unsere Männer planen sofort den Ausbau und die Renovierung des Kinderzimmers, unterdessen fertige ich eine Liste mit Babynamen an. Sarah erzählt von dem Tag, wo diese kleine Erbse beim Ultraschall entdeckt wurde, wie berührend es war, den ersten Herzschlag zu hören und von der unerträglichen Übelkeit, die sie seitdem begleitet. Nebenbei kramt sie in ihrer Tasche und holt ein aktuelles Ultraschallbild heraus. Mit den Fingern streicht sie über dieses kleine Wunder und beschreibt detailliert, was zu erkennen ist. Sie ist so überaus glücklich und ich bin absolut überwältigt.
Ein bewegendes Abendessen neigt sich dem Ende zu. Tom und ich sind im Begriff aufzustehen, doch die beiden schauen uns mit ernstem Gesicht an.
„Sarah, ist alles gut?“ Fast schon panisch vor Sorge stoße ich mich aus meinem Stuhl.
„Naja, eine wichtige Sache wäre da noch.“
„Was denn?“
„Könnt ihr euch vorstellen, im Falle unseres Todes, unser Kind zu euch zu nehmen?“ Sofort schossen mir Tränen in die Augen, nur bei dem Gedanken daran, dass die zwei sterben könnten.
„Da gibt es ja wohl keine Frage, selbstverständlich“, sage ich, ohne vorher mit Tom darüber zu sprechen. Er nimmt meine Hand und drückt sie sanft.
„Oder?“, wende ich mich an ihn.
„Ich sehe das auch so“, entgegnet er mit Stolz in seinem Blick.
„Gut, denn wir hätten euch sehr gern als Paten für unser Kind.“
Jetzt ist es um mich geschehen. Tränen laufen ungehalten über meine Wangen. Gerührt nicke ich heftig.
„Das ist uns sogar eine Ehre. Danke!“, antwortet Tom für uns beide.
„Was für wunderbare Neuigkeiten“, sage ich verträumt zu Tom.
„Ja, ein echtes Highlight heute. Hätten wir unsere guten Nachrichten auch verraten sollen?“
Darüber hatte ich zu dem Zeitpunkt nicht nachgedacht.
Wenn Sarah mitbekommt, dass ich ihr etwas verheimliche, habe ich die längste Zeit gelebt.
Meine Gedanken bringen mich zum Lachen.
„Was hast du?“
„Ich habe gerade darüber nachgedacht, dass Sarah mich umbringt, wenn sie herausbekommt, dass ich Geheimnisse vor ihr habe.“
Er feixt: „Sobald der Notartermin durch ist, kaufen wir Sarah ein Wiedergutmachungsgeschenk, dann verzeiht sie dir locker.“ Tom nimmt mich fest in seinen Arm.
Langsam senkt sich die Sonne und das Vogelgezwitscher schwindet. Den lauen Sommerabend verbinden wir mit einem Spaziergang entlang des Sees, bis zu uns nach Hause.
Kapitel 2
Das Leben der Anderen
Wieder sitzt sie auf den knarrenden, staubigen alten Holzlatten des Dachbodens und blättert die leicht verklebten Seiten des Fotoalbums um. Die Schwarz-Weiß-Fotos, zum Teil so verwackelt, dass darauf Details kaum erkennbar sind, zeigen eine Zeit, wo ihre Mutter unendlich glücklich war. Bis heute weiß sie nicht, ob der Mann auf dem Bild je einen Hauch einer Ahnung hatte, was er ihnen beiden antat. Verschwunden, ohne ein Wort zu sagen, schwanger für eine Andere sitzen gelassen. Das war überhaupt nicht gentlemanlike.
Wann immer sie das Thema auf ihn brachte, ergriff Tanja grundsätzlich Partei für diesen Schuft.
„Ihn trifft keine Schuld Liebes, er wusste doch von nichts.“ Immer dieselbe Leier. Doch jedes Mal antwortete sie kopfschüttelnd, stets ein bisschen deutlicher, dass ihm definitiv klar war, dass er Frau und Kind verließ, ohne zurückzublicken.
Nicht einmal Jahre später besaß er den Schneid sich zu melden. Am neunzehnten Mai eines jeden Jahres hoffte sie auf einen Brief oder einen Anruf an ihrem Ehrentag, doch ihr Vater meldete sich nie. Am achtzehnten Geburtstag schwanden die Hoffnungen und Träume. Nichts mehr war von dem verträumten und großartigen Bild ihres Vaters übrig. Wenn er so tun konnte, als hätte er keine Tochter in diese Welt gesetzt, konnte sie so tun, als hätte sie keinen Vater. Geladen knallt sie das Fotoalbum zu.
„Es reicht“, schnauft sie.
Laut knarrt das alte Holz jeder einzelnen Stufe, während sie die Treppen vom Boden wütend hinabsteigt. Sie eilt in das Wohnzimmer ihrer Mutter und teilt ihr all die neuen Details mit, die sie über ihren Erzeuger in Erfahrung bringen konnte.
„Ich weiß jetzt endlich, wo er wohnt“, erwähnt sie abgehetzt.
Irritiert sieht Tanja zu ihr.
„Wer denn?“, fragt sie fast schon ein wenig aufgeregt.
Aber ihre Tochter verdreht nur heftig die Augen.
„Na wer wohl? Ist ja nicht so, als ob wir ständig irgendwen ausfindig machen müssen.“
Tanja atmet genervt aus und tief wieder ein.
„Kannst du es nach über dreißig Jahren immer noch nicht sein lassen?“
„Nein, kann und will ich nicht. Möchtest du nun mehr hören oder nicht?“
Quälend tippt sie mit ihrem Fuß auf die Dielen und erwartet eine Antwort. Ihr war klar, dass sie damit ständig alte Wunden aufriss, doch sie konnte nicht anders, hinter all der Wut steckte ein kleines, verlassenes Mädchen, welches um jeden Preis ihren Vater kennenlernen wollte. Nur über ihre Leiche würde sie das zugeben, aber es ist so, sie hat Sehnsucht nach ihrem Vater, ihren Wurzeln, will wissen, wo sie hingehört.
„Bitte! Dann sag was du zu sagen hast“, geifert Tanja ihre Tochter an.
Aufgeregt springt sie auf den Sessel.
„Also, pass auf“, präsentiert sie ihre Detektivarbeit.
„Es ist mir schleierhaft, wie wir uns so lange nicht über den Weg laufen konnten, aber er wohnt gerade mal fünfunddreißig Minuten von hier, in Ralbitz. Mama, er wohnt nur einige Dörfer entfernt, ist das nicht irre?“ Spricht das kleine, enthusiastische Mädchen aus ihr.
Ihr Bauch fängt an zu kribbeln, als sie sich vorstellt, dass sie bald auf ihren Vater treffen könnte. Ungewollt fängt sie an zu grinsen und verfällt erneut ihrer Traumvorstellung eines Vaters.
„Schatz“, holt ihre Mutter sie aus dem Traum.
Sie schüttelt sich kurz und sammelt ihre Gedanken zusammen.
„Ich wollte wissen, was du mit dieser Information jetzt anfangen möchtest?“ Tanja versucht, die Frage so unterkühlt wie möglich zu stellen, aber auch ihr dreht sich der Magen vor Nervosität.
Fünfunddreißig Jahre war es her, als sie ihn das letzte Mal sah. Seitdem gab es keine nennenswert guten Beziehungen in ihrem Leben. Nach all den Jahren hängt ihr Herz weiterhin an Andreas, dem Vater ihrer einzigen Tochter, der Liebe ihres Lebens, an dem Mann, der ihr die Welt bedeutet. Ihre Augen wurden traurig, doch wie immer, will sie ihrer Tochter nicht zeigen, wie stark sie diese Details über sein Leben schmerzen.
„Erst einmal will ich noch ein paar Einzelheiten rausfinden, ob er mit der Frau noch zusammen ist, vielleicht weitere Kinder hat, wo er arbeitet und was man eben noch so rausfindet, wenn man in meiner Position arbeitet. Und wenn ich das weiß, dann werde ich ihn besuchen“, entgegnet sie ihrer Mutter voller Stolz.
Tanja fällt der Teller mit den sorgfältig geschnittenen Apfelstücken auf den Fußboden. Ihre Augen sind weit geöffnet, ein Feuer brennt in ihr, als sie völlig unerwartet losbrüllt.
„Was soll das? Wieso kannst du es nicht einfach auf sich beruhen lassen? Warum musst du immer tiefer graben? Nicht ein einziges Mal hast du nachgefragt, ob ich überhaupt will, dass du dich diesem Mann näherst! Es geht die ganze Zeit nur um dich und deine Gefühle. Hast du schon einmal überlegt, warum er sich nie bei dir gemeldet hat, dich nie aufgesucht hat? Weil er es nicht will, er hat kein Interesse, das hatte er nie! Also höre auf mit deinem rumgeschnüffel!“ Tanja steht auf, rennt wutentbrannt aus dem Wohnzimmer und knallt die Tür so heftig, dass zwei Bilder von der Wand fallen.
Erstarrt schaut sie auf die Wohnzimmertür, Tränen füllen ihre Augen. In ihr herrscht ein entsetzlicher Schmerz. Sie ist gekränkt, fühlt sich vor den Kopf gestoßen, nicht verstanden und zu Unrecht verurteilt. Es war nicht ihre Absicht jemanden weh tun, vor allem nicht ihrer Mutter, aber dieser wütende Vorwurf trifft sie tief. Sie will doch nichts weiter, als die Sehnsucht nach ihrem Vater stillen.
Das ist nicht fair!
Enttäuscht und wütend packt sie Handy und Schlüssel in ihre Handtasche und verlässt die Wohnung ihrer Mutter, ohne sich zu verabschieden.
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